Die „Humanity 1“ – Lebensretterin im Mittelmeer

 

Ein Seenotrettungsschiff entdeckt ein Flüchtlingsboot nachts auf dem Mittelmeer (Quelle: Raphael Schumacher/SOS Humanity)

Das Seenotrettungsschiff Humanity 1 entdeckt ein Flüchtlingsboot nachts auf dem Mittelmeer (Quelle: Raphael Schumacher/SOS Humanity)

Das Seenotrettungsschiff Humanity 1 liegt im Hafen von Syrakus auf Sizilien vor Anker. Dort, wo Europa endet und auf der anderen Seite des Mittelmeers Afrika beginnt, ist das Schiff der deutschen Organisation SOS Humanity als Lebensretterin unterwegs. Seit August 2022 hilft die Besatzung Flüchtlingen, die in Seenot geratenen sind. 1.608 Männer, Frauen und Kinder hat sie bereits aus gekenterten Schlauchbooten oder Fischerkähnen, die ein Leck hatten, an Bord genommen. Katrin Weidemann, Vorstandsvorsitzende der Kindernothilfe, war zwei Tage auf dem Schiff zu Gast.

Text: Kathrin Weidemann

Katrin Weidemann (Kindernothilfe) mit Barbara Hohl (SOS Humanity) an Bord der Humanity 1 (SOS Humanity)

Till Rummenhohl rettet seit acht Jahren Menschen aus dem Meer, seit 2022 leitet er die Organisation SOS Humanity. Zusammen mit Kapitän Josh führt er mich über das 60 Meter lange Schiff. „Die meisten Flüchtlingsboote starten bei Sonnenuntergang“, erzählt er. „Deshalb finden auch die meisten Bergungen nachts statt.“ Bergungen, also Menschen retten, und das im Dunkeln und bei starkem Seegang, das ist nicht ungefährlich. Doch die meisten Boote sind manövrierunfähig, völlig überladen, mit leerem Tank. Für ihre Insassen kommt die Hilfe oft in letzter Minute. 

 

Ein Flüchtlingsboot nachts auf dem Mittelmeer (Quelle: Raphael Schumacher/SOS Humanity)

Ein Flüchtlingsboot nachts auf dem Mittelmeer (Quelle: Raphael Schumacher/SOS Humanity)

Boot in Sicht – dann zählt jede Sekunde

Wenn der Wachposten an Bord der Humanity 1 ein Boot in Seenot entdeckt, muss es ganz schnell gehen. Mit einem Kran werden die zwei RHIBs, das sind große, schnelle Schlauchboote, ins Wasser gelassen. Mit ihnen macht sich ein Rettungsteam auf den Weg. Die Geflüchteten sind natürlich total aufgeregt, wenn sie sehen, dass sie Hilfe bekommen. Das Team versucht erst einmal in verschiedenen Sprachen, sie zu beruhigen, und wirft ihnen Rettungswesten zu. Eines der Schlauchboote bringt die ersten Menschen zur Humanity 1, während das zweite Boot bei den übrigen Geflüchteten bleibt und aufpasst, dass niemand ins Wasser fällt.

An Bord der Humanity 1 wird ganz kurz gecheckt, wer krank oder verwundet ist – diese Menschen werden sofort zur Krankenstation gebracht. Manche haben sich auf ihrer gefährlichen, langen und anstrengenden Flucht Knochenbrüche oder Brandwunden zugezogen. Bei den anderen werden kurz die Namen aufgeschrieben, und dann erhalten alle einen Beutel mit Trainingsanzug, T-Shirt, Unterhose, Wasserflasche, Zahnbürste, Handtuch. Obendrauf gibt’s noch ein Paket mit speziellen Keksen, die viele Kalorien und Nährstoffe erhalten, damit die ausgehungerten Menschen schnell zu Kräften kommen.

 

Ein sicherer Ort für Frauen und Kinder – ausgestattet mit Unterstützung der Kindernothilfe

Die Männer liegen dicht an dicht auf Deck und schlafen dort (Quelle: Arez Ghaderi/SOS Humanity)

Die Männer liegen dicht an dicht auf Deck und schlafen dort (Quelle: Arez Ghaderi/SOS Humanity)

Die Frauen verschwinden meist sofort auf der Frauenstation. Während die Männer dicht an dicht in langen Reihen auf Deck übernachten, sind Frauen und Kinder in diesen sicheren Räumen im Schiffsbauch untergebracht. Sie wurden mit Unterstützung der Kindernothilfe ausgestattet.

„Wir hatten schon gerettete Frauen an Bord, die drei oder vier Tage lang diesen Raum nicht verlassen haben“, erklärt Till. Für sie ist der Raum oft der erste geschützte Ort seit Monaten. Hier können sie wirklich schlafen, ohne zu befürchten, in der Nacht misshandelt, gefoltert oder gar getötet zu werden. Nach monatelangem Alarmzustand können Körper und Geist hier zur Ruhe kommen. Manche Frauen sind geflohen, weil sie gegen ihren Willen verheiratet werden sollten. Andere haben sich mit ihren Töchtern auf den Weg gemacht,  denen eine grausame Behandlung drohte, weil es zur Tradition vieler Völker gehört. Deshalb ist auf dem Schiff auch immer eine speziell ausgebildete Frau an Bord, die sich um die traumatisierten Mädchen und Frauen kümmert.

 

 

Mayday – M’aider, hilf mir

Die Crew der Humanity 1 ist international, ihre Mitglieder stammen aus Italien, Nigeria, Frankreich, Polen oder Deutschland. Was sie motiviert, ist der Notruf Mayday. Der ist aus dem französischen Hilferuf „m´aider“ (mädé) – „hilf mir“ entstanden. Wer ihn hört, muss zu Hilfe eilen. Was die Crewmitglieder verbindet, ist, dass sie jeden Geretteten mit Respekt behandeln. Die Schutzsuchenden sind oft vor Folter, Gewalt und Ausbeutung geflohen. Die Mitarbeitenden an Bord begegnen ihnen mit Menschlichkeit. Und leben damit das, was ihrem Schiff den Namen gibt: Humanity, Menschlichkeit.

Banner mit den Worten "Herzlich willkommen an Bord" auf Französisch und Arabisch (Quelle: Katrin Weidemann)

Banner mit den Worten „Herzlich willkommen an Bord“ auf Französisch und Arabisch (Quelle: Katrin Weidemann)

Geflüchtete Menschen müssen in Sicherheit gebracht werden

Vor zwei Jahren hat unsere Regierung gesagt, dass Geflüchtete an den Grenzen der EU nicht weggeschickt werden dürfen. Auch die Seenotrettung dürfe nicht behindert werden. Und es müsse garantiert werden, dass Menschen nach ihrer Rettung an sichere Orte gebracht würden.

Im Herbst 2023 klingt das ganz anders in unserem Land und in Europa. Da ist davon die Rede, dass Länder sich abschotten müssen, also dass sie keine Geflüchteten mehr reinlassen sollen. Tunesien soll als sicherer Staat gelten, das bedeutet, dass alle, die dort in ein Boot steigen, um illegal nach Europa einzureisen, keine Chance auf Asyl haben. Sie sollen in Tunesien bleiben, weil sie dort angeblich in Sicherheit sind. Dabei werden Geflüchtete in Tunesien misshandelt und haben dort keine Rechte. 

Geflüchtete Kinder auf dem Schiff sehen in der Ferne zum ersten Mal Italien (Quelle: Danilo Campailla/SOS Humanity)
Geflüchtete Kinder auf dem Schiff sehen in der Ferne zum ersten Mal Italien – das Land, das sie ohne die Hilfe der Humanity 1 nie erreicht hätten (Quelle: Danilo Campailla/SOS Humanity)

In den Diskussionen von Politikerinnen und Politikern in Europa, scheint es mir, „macht die Menschlichkeit gerade Pause“. Hier im Hafen von Sizilien wird die Humanity 1, die „Menschlichkeit 1“ nur noch wenige Tage Pause machen und vor Anker liegen. Dann wird sie wieder in See stechen, um Leben zu retten. Und um eine Menschlichkeit zu zeigen, die sich von den Schicksalen der Schutzsuchenden berühren und bewegen lässt.

Ein gerettetes Kind geht von Bord des Seenotrettungsschiffs (Quelle: Nicole Thyssen/SOS Humanity)
Ein gerettetes Kind geht von Bord des Seenotrettungsschiffs – welche Zukunft wird es wohl erwarten? (Quelle: Nicole Thyssen/SOS Humanity)