Philippinen: Ein weiß lackierter Weihnachtsbaum
Robinson hat in seinem Zauberbuch ein Bild gefunden, das er komisch findet. Auf den Philippinen, einem Land in Asien, hat ein Mädchen einen dicken Ast von einem Nadelbaum in einen Eimer mit Erde gesteckt und besprüht ihn mit weißer Farbe.
„Was soll das denn werden“, wundert er sich. „Josephine bastelt einen Weihnachtsbaum“, steht unter dem Foto. „Weihnachtsbaum?“, prustet Robinson los. „Also ich würde Josephine ja gerne mal erklären, wie ein Weihnachtsbaum aussiehie….aaaaaa…“ Auf dem Dachboden ist es plötzlich ganz still. Und leer. Weit und breit ist kein Robinson mehr zu sehen.
Rummmsss!!!
„Ääääähh!“
„Iiiiiiihh!“
In der philippinischen Hauptstadt Manila schreien ein Mädchen und ein Junge gleichzeitig auf. Josephine schreit, weil hinter dem Ast, den sie gerade mit weißer Farbe besprüht, ein Junge vom Himmel plumpst. Und Robinson schreit, weil ihm jemand Farbe ins Gesicht sprüht.
„He, was soll das?“, schreit Robinson empört.
Seine Brillengläser sind weiß lackiert. Josephine lässt die Sprühdose fallen und drückt Robinson einen Lappen in die Hand.
„Schnell, wisch die Brille ab, bevor die Farbe trocken wird“, drängt sie ihn. „Deine Haare haben auch was abgekommen“, kichert sie. „Die sehen echt cool aus – wie gesträhnt! Kommt die rote Haarfarbe auch aus der Sprühdose?“
Robinson begutachtet sein Spiegelbild in einer Fensterscheibe.
„O nee!!!“, stöhnt er. „Hoffentlich geht das wieder raus! Meine Freunde lachen sich sonst über mich kaputt!“
Er entdeckt den weiß lackierten Ast – dieses merkwürdige Ding hat er ja schon auf dem Foto im Zauberbuch gesehen. „Was machst du hier eigentlich?“, fragt er.
„Unseren Weihnachtsbaum“, antwortet Josephine. „Das soll ein Weihnachtsbaum sein?“ Robinson prustet bei dem Gedanken erneut los.
„Wieso denn nicht?“, fragt Josephine schnippisch. „Na, erstens ist ein WeihnachtsBAUM ein Baum und kein Ast“, erklärt Robinson. „Und außerdem ist ein Weihnachtsbaum nicht weiß lackiert.“
„Und wer bist du, dass du das so genau weißt?“ „Ich komme aus Deutschland, und wir haben den Weihnachtsbaum quasi erfunden“, behauptet Robinson keck.
„Aber bei euch liegt ja auch richtiger Schnee, oder? Siehst du hier irgendwo Schnee? Bei 30 Grad im Schatten? Also streichen wir unsere Weihnachtsbäume eben weiß an. Und da meine Familie nicht viel Geld hat, können wir uns keinen richtigen Baum leisten.“
Josephine sprüht noch ein letztes Mal über die Nadeln des Baumes.
„Deswegen haben meine Brüder einfach von einem Baum einen dicken Ast abgebrochen. Den haben wir dann so geschnitten, dass er wie ein Baum aussieht. Das ist schließlich besser als nichts, oder?“
Dann müssen die beiden Kinder warten, bis die Farbe getrocknet ist. Josephine erzählt Robinson, dass die philippinische Weihnachtszeit das längste Weihnachten der Welt ist. „Das fängt schon im September an. Dann wird alles weihnachtlich geschmückt. Und am 16. Dezember geht‘s richtig los – dann gehen wir bis Heiligabend jeden Tag in den Gottesdienst. Am 24. Dezember feiern wir die Noche Buena, am 25. Dezember das Weihnachten der Kinder, dann den Tag der Unschuldigen Kinder, das Weihnachten der jungen Männer und Frauen, das Weihnachten der älteren Menschen …“
„Halt stopp“, unterbricht Robinson die Aufzählung, „kriegt hier jeder sein eigenes Weihnachten? Was kommt denn noch? Vielleicht das Weihnachten der Dicken und der Dünnen…?“
„Nee“, lacht Josephine. „Am 6. Januar ist unsere Weihnachtszeit zu Ende. Guck mal, die Farbe ist trocken, jetzt müssen wir den Baum schmücken.“ Sie schneidet von einer Plastiktüte einen langen Streifen ab und knotet ihn an einem Zweig fest. Robinson wundert sich – so ein merkwürdiges Lametta hat er noch nie gesehen.
„Du kannst die Tüte zerschneiden und ich dekoriere, okay?“, fragt Josephine. Robinson schnibbelt los, und Josephine hängt die Streifen sowie Zeitschriftenfotos von Sternen, Glocken und schneebedeckten Tannenbäumen an die kleinen Zweige. „Ich hab sie aus einer Zeitschrift ausgeschnitten hat, die ich im Müll gefunden hab“, erzählt sie. „Sieht doch cool aus, oder? So einen tollen Baum hatten wir noch nie!“
„Josephine, wir sind wieder da!“ Josephines kleiner Bruder kommt durch die Gasse gestürmt. Weitere Kinder sind ihm dicht auf den Fersen. „Ohhhhh!“ Abrupt bleiben sie stehen und bewundern andächtig den fertigen Weihnachtsbaum. „Ist der schön!“, flüstert Josephines Bruder. Dann starrt er den Jungen mit den rot-weißen Haaren an. „Wer bist du denn?“
„Ich bin Robiiiiaaaa….“
Robinsons Antwort geht in einem Schrei unter, denn genau in diesem Moment ruft ihn das Zauberbuch zurück. Er wird hochgewirbelt und ist von einer Sekunde auf die andere verschwunden.
Zurückbleiben Josephine und ihre Geschwister, die völlig verdattert in die Luft starren. Den ganzen Abend und auch noch viele Wochen später muss Josephine immer wieder die Geschichte von dem Jungen aus Deutschland erzählen, der vom Himmel fiel und sich genauso plötzlich wieder in Luft auflöste.
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