Kinder auf Lesbos: Aus dem Meer gerettet und dann eingesperrt im Flüchtlingscamp

Nach einem Artikel der WAZ-Reporterin Annika Fischer für die Kindernothilfe

Eine Person blickt von einem Felsen aus auf ein Flüchtlingslager (Quelle: Knut Bry)

Eine Person blickt von einem Felsen aus auf ein Flüchtlingslager (Quelle: Knut Bry)

Nazameen (32) flüchtete mit ihren beiden Kindern aus Afghanistan. Sie schafften es über das Mittelmeer bis nach Griechenland. Ihr Boot landete auf der Insel Lesbos. Endlich wieder Land unter den Füßen, in Sicherheit. Doch dann wurden sie mit den anderen, die die Überfahrt geschafft hatten, in das Lager Moria gebracht: Dort war es eng, es stank, es gab viel Gewalt und nur wenig zu essen und zu trinken. In der Nacht vom 8. auf den 9. September 2020 brannte das Lager ab. Auch die 25-jährige Nargis, die ebenfalls mit ihren beiden Töchtern aus Afghanistan geflüchtet war, hat das miterlebt, die Flammen, die geschlossenen Tore, den Stacheldraht, die Todesangst!

Dabei hatten die beiden Frauen in Afghanistan schon so viel Schlimmes mitgemacht. Nazameen erzählt davon, dass ihr Mann sie verprügelte und bedrohte. Bei Nargis ging es um Missbrauch und Misshandlungen.

Der Kindernothilfe-Partner Lesvos Solidarity, kurz LeSol, hat die beiden Familien und viele andere Geflüchtete aus Moria rausgeholt und in sein eigenes Lager gebracht: nach Pikpa. Pikpa war ein menschenfreundlicher Ort, in dem die Leute nicht in Zelten lebten oder in Containern, sondern in Holzhäusern. Wo es bunte Farben gab und Plätze, wo Kinder spielen konnten, und keinen Zaun, der sie hinderte, in die Schule zu gehen.

Die Polizisten kamen morgens um sechs

Aber nach der Zerstörung von Moria duldete die griechische Regierung keine privaten Camps mehr. Sie gaben LeSol einen Monat Zeit, um alles leerzuräumen. Und dann kamen sie doch selbst, um die Menschen dort herauszuholen. Die Polizisten sahen aus wie Soldaten, und sie kamen morgens um sechs. Rissen die Kinder aus dem Schlaf, setzten die Menschen in Busse, raus, raus, sie machten das Lager dicht. Einen Monat nur, nachdem ein verheerendes Feuer das andere Camp vernichtet hatte. Und Nargis sah ihre zwei Töchter schon wieder weinen.

Eine verwüstete Bibliothek (Quelle: Jürgen Schübelin)

Bei dem Polizeieinsatz wurde das Pikpa-Camp verwüstet (Quelle: Jürgen Schübelin)

Acht Jahre, sagt der Kindernothilfe-Partner LeSol, hat er Pikpa aufgebaut, wohl über 40.000 geflüchtete Menschen hier versorgt – und dann war es ruckzuck leer. Und die Mitarbeitenden mussten darum kämpfen, dass die Leute nicht gleich ins nächste Lager gesteckt wurden – in das staatliche Camp Kara Tepe direkt am Strand, mit Blick auf das Meer. Aus eben diesem Meer hatte so mancher nur ganz knapp sein Leben retten können, weil die Schlauchboote, in denen die Menschen sich aufs Wasser gewagt hatten, nicht seetauglich waren. 

Wer jetzt in Kara Tepe wohnt, lebt wieder in Zelten, ist hinter Zäunen eingesperrt. Niemand darf ohne guten Grund das Lager verlassen, auch nicht, um in die Schule zu gehen. „Die Kinder wachsen in einem Käfig auf“, sagt LeSol, „aber sie haben doch nichts verbrochen.“ Die Organisation versucht, für möglichst viele Frauen eigene Wohnungen zu finden, vielleicht nur ein Zimmer, aber einfach sichere Orte. Häuser, von denen aus ihre Kinder zum Unterricht gehen können.

„Wir sind doch Menschen“

Für Nazameen und Nargis haben sie solche Wohnungen gefunden. Nargis achtjährige Tochter lernt inzwischen Griechisch und Englisch, ihre Zweijährige spricht schon jetzt davon, dass sie das auch lernen will. Tochter (11) und Sohn (12) von Nazameen stehen noch auf einer Warteliste. Was die 32-Jährige aufrecht hält: der Kampf um einen besseren Platz im Leben für ihre Kinder. „Wir alle“, sagt sie, „sind doch Menschen und haben das Recht, irgendwann ein gutes Leben zu führen.“ Der Traum von Nargis hört sich ganz ähnlich an: Eines Tages sollen ihre Töchter an einem Ort aufwachen, wo sie sich als Mädchen frei fühlen können. „Und wo sie wissen: Hier müssen sie nicht mehr weg.“