Afrikanisches Märchen: Wie der Junge Tongo und der Löwe Simba Freunde wurden

Zwei Kinder streicheln einen großen Löwen (Quelle: Peter Laux)

Von Dr. Gabriele Molsen vom Kindernothilfe-Arbeitskreis Lachendorf – nach einer Geschichte von Nelson Mandela; Illustrationen: Peter Laux

 

In jedem Land der Erde erzählen Großmütter ihren Kindern und Enkelkindern Geschichten – sei es in einer Berghütte am warmen Kachelofen, auf einem gemütlichen Sofa in einer Wohnung im neunten Stock eines Hochhauses in einer Groß­stadt oder auf einer Terrasse am Meer, wo sich die Geschichten mit dem Rauschen der Wellen vereinen …

… oder aber auch an einem Lagerfeuer im Hoch­land in Afrika, wenn die untergehende Sonne den Himmel tieforange färbt und die Akazien und Dornensträucher lange Schatten auf den trockenen Boden der Savanne werfen.
Unsere Geschichte führt uns in ein Kikuyu-Dorf in Kenia. Nach getaner Tagesarbeit sammeln sich die Kinder und ihre Familien im Schein des abendlichen Feuers, wo – wie jeden Abend – die Großmütter ihre Geschichten erzählen, die von Generation zu Gene­ration weitergegeben werden. Sie handeln oft von Tieren, die sich gegenseitig überlisten, die andere Gestalten annehmen, von Furcht einflößen-den Ungeheuern oder auch von Begegnungen zwischen Menschen und Tieren.

Meist beginnt die Älteste der Großmütter mit dem Hinweis: „Ich meine nicht wirklich …, ich meine nicht wirklich, dass das, was ich jetzt erzählen werde, auch wahr ist, aber es könnte sich doch so zugetragen haben …“
Und dann erzählt sie dieses Märchen: Vor langer Zeit lebte hier in der Nähe ein Löwe namens Simba. Er hatte sich einen dicken, langen Dorn des Dornenstrauches so tief in seine Tatze getreten, dass er nicht mehr laufen und sich auch nichts mehr zu fressen besorgen konnte. Schnell sprach sich diese Neuigkeit bei den Tieren der Savanne herum.

Eine Hase und eine Hyäne laufen durch die Savanne (Quelle: Peter Laux)

Auch Kandulu, der listige Hase, und die feige Hyäne Nyangau hörten davon und machten sich auf den Weg zu seiner Höhle.
Jeder der beiden dachte aller­dings für sich: „Wenn ich ihm helfe, könnte ich viel­leicht sein Freund werden, und es ist gut, so einen starken Gesellen als Freund zu haben“ – aber gleich­zeitig überlegten sie auch, wie sie den anderen am besten mit einer List ausstechen könnten. Kandulu, der Mutigere der beiden, schaute vorsichtig in die Höhle des Löwen hinein. Jämmerlich lag Simba auf seinem Lagerplatz. Er hatte starke Schmerzen, aber noch schlimmer war sein unbändiger Hunger. Sein Magen knurrte so laut, dass man es schon von Weitem hören konnte.
Noch etwas ängstlich fragte Kandulu den Löwen vom Eingang der Höhle her: „Du armer Simba, wie kann ich dir helfen?“
Der antwortete schwach: „Bring mir etwas zu essen, ich habe entsetzlichen Hunger, und der Dorn in meinem Fuß tut sooo weh!“
Ein Hase bringt einem Löwen in einer Höhle etwas zu fressen  (Quelle: Peter Laux)Der Hase machte sich gleich auf, um etwas Essen für den Löwen zu besorgen. Eigentlich sind Hasen ja Pflanzenfresser, aber er wusste, dass ausgewachsene Löwen wie Simba reichlich frisches Fleisch benötigen, um wieder zu Kräften zu kommen. Also machte er sich auf die Jagd und schleppte allerlei Essbares herbei, so viel er nur tragen konnte. Langsam kam Simba wieder zu Kräften, aber die Tatze wollte und wollte nicht heilen.

 

Die Hyäne Nyangau hatte sich die ganzen Tage im Hintergrund gehalten und alles neidisch aus der Ferne beobachtet. Sie war neidisch auf Kandulu und ärgerte sich, dass die beiden so gut miteinander auskamen.

Als der Hase wieder einmal unterwegs war, um etwas Essbares für den Löwen zu holen, schlich sich Nyangau vorsichtig an seine Höhle heran.

Sie schnüffelte an den Knochenresten, die Simba von den Mahlzeiten übrig gelassen hatte, und hätte so gern die Knochen weiter abgenagt. Die hatten schon einige Zeit in der Sonne gelegen und rochen daher für sie besonders lecker!

Eine Hyäne besucht einen Löwen in einer Höhle und schnüffelt an Knochen, die auf dem Boden liegen  (Quelle: Peter Laux)Doch Simba fuhr sie an: „Was suchst du hier? Das ist mein Essen gewesen, scher dich weg!“

Aber die gemeine Hyäne winselte: „Lieber Löwe, großer Herrscher der Savanne, warum hast du denn noch immer solche Schmerzen? Kann dir der dumme Hase nicht helfen? Ich kenne das richtige Heilmittel für deine Tatze: eine gute Scheibe Fleisch, die du zwei Tage auf die Wunde legst und danach sogar noch aufessen kannst!“

Gesagt – getan. Die Hyäne machte sich sogleich auf den Weg, um ein gutes Fleischstück zu besorgen. Inzwischen war Kandulu wieder zurück zur Höhle gekommen, allerdings hatte er nur wenig zu fressen gefunden. Außer sich vor Hunger und dem schmer­zenden Dorn in der Wunde brüllte Simba: „Scher dich weg! Du hast mir nicht geholfen! Sei froh, dass ich dich nicht auffresse, obwohl ich riesigen Hunger habe!“

Erschrocken sah Kandulu auf Simbas gewaltige Zähne, machte kehrt und – wie es Hasen so tun – schlug einige Haken und war froh, heil davongekommen zu sein.
Nach einigen Tagen kam die Hyäne zurück mit einem großen Stück Fleisch. Aber feige wie sie und ihre Artgenossen so waren, hatte sie es von einer Antilope abgerissen, die schon einige Tage tot in der Sonne gelegen hatte. Dieses schon verdorbene Fleisch legte sie auf Simbas Wunde.

Schon am nächsten Tag schmerzte die Wunde höllisch, und der Löwe schrie: „Was hast du getan, Hyäne? Meine Tatze sieht schlimmer aus als vorher! Die Schmerzen und mein Hunger machen mich rasend!“

Ein Löwe in einer Höhle greift eine Hyäne an und kratzt sie auf dem Rücken  (Quelle: Peter Laux)Er wollte sich auf die Hyäne stürzen, konnte ihr aber nur einen schmalen Hautstreifen vom Rücken abreißen. Die zurückbleibenden Haare entlang der Wunde sträubten sich auf, aber die Hyäne war froh, dem Löwen entkommen zu sein. Seitdem jedoch haben Nyangau und ihre Artgenossen bis heute lange, borstige Haare, die am Nacken ihres Körpers abstehen.
Jetzt hatte der einst große, starke Löwe niemanden mehr, der ihm helfen könnte. Laut brüllte er seinen Hunger und Schmerz in die Savanne hinein, aber sein Rufen wurde zunehmend schwächer.

In der Nähe der Löwenhöhle lag unser kleines Kikuyu-Dorf. Dort lebte der Junge Tongo mit seiner Familie. Die Kinder wussten, dass in der Umgebung des Dorfes viele wilde Tiere lebten und es gefährlich war, in den Busch hinauszulaufen.

Eines Nachts konnte Tongo nicht schlafen und hörte das jämmerliche Klagen des Löwen in der Ferne. Gleich am nächsten Morgen schlich er sich fort und fand den kranken Simba in seiner Höhle. Simba versuchte sich aufzurichten, aber er war schon zu schwach dazu. Kläglich erzählte er ihm von seinem Hunger und den quälenden Schmerzen, den der Dorn in der Tatze verursachte.

Ein Junge steht vor einem Löwen in einer Höhle  (Quelle: Peter Laux)Tongo tat der Löwe sehr leid, und er beschloss, ihm zu helfen! So oft er konnte, brachte er ihm etwas zu fressen, und nach ein paar Tagen erlaubte Simba es ihm, auch den Dorn aus der schmerzenden Tatze zu ziehen, auch wenn es furchtbar wehtat! Langsam fassten sie Vertrauen zueinander, ja sie freundeten sich sogar ein wenig an!
Tongo erzählte ihm von seinem Dorf, seiner Schwester und seinen Freunden – auch Simba berichtete von seiner Löwenfamilie, seiner Frau und den Löwen­jungen.

„Warum bringst du nicht einmal deine Schwester mit? Ich würde sie auch gern kennenlernen.“
„Meine Schwester? Die ist doch ein Mädchen, die hilft meiner Mutter und meiner Großmutter im Haus und im Garten, beim Saubermachen und Essenzube­reiten. Dazu arbeitet sie fast
jeden Tag nachmittags bei unserer Nachbarin und hilft ihr, Gemüse und Obst auf dem Abendmarkt zu verkaufen.“
Simba ist erstaunt. „Aber meine Kinder essen und spielen immer zusammen, die Mädchen und die Jungen, auch die älteren. Und sie lernen auch die gleichen Dinge, auch die Mädchen lernen, auf die Jagd zu gehen. Bei uns sind alle gleich, die Mädchen und die Jungen. Ist das bei euch Menschen nicht so?“
Tongo überlegt. „Na ja, eigentlich ist das in manchen Familien schon so – aber nicht bei allen. Es wird gesagt, alle Kinder hätten das Recht, in die Schule zu gehen und etwas zu lernen, auch für später. Und sie sollten auch nicht arbeiten müssen. Und Jungen und Mädchen sollten gleich behandelt werden. Aber bei uns ist das nicht so. Meine Schwester muss mitarbeiten, auch wenn sie etwas jünger ist als ich. Ohne das zusätzliche Geld, das sie verdient, könnten wir das Schulgeld nicht bezahlen. Sie hat deswegen schon oft geweint. Ich glaube, sie würde auch gern mit mir in die Schule gehen und etwas lernen, statt arbeiten zu müssen. Du hast recht!“

Nach diesem langen Gespräch ging Tongo nachdenk­lich nach Hause. Am Abend berichtete er seiner Familie von seinen Ausflügen zu Simba, der ihm inzwischen fast so etwas wie ein Freund geworden war. Seine Eltern waren zuerst erschrocken, als sie hörten, wo Tongo in der letzten Zeit immer wieder gewesen war, aber die Worte des Löwen gingen ihnen nicht mehr aus dem Kopf. Vielleicht sollten sie doch versuchen, über eine zusätzliche Arbeitsstelle oder einen Verkauf von mehr selbst angebautem Gemüse das Schulgeld auch für ihre Tochter zu verdienen?

Sie hatten schon gehört, dass es in manchen Dörfern Leute gab, die ihnen vielleicht weiterhelfen könnten. Tongos Mutter war fest entschlossen, auch ihrer Tochter den Schulbesuch zu ermöglichen, schließ­lich hatte sie selbst als Mädchen immer davon geträumt, in die Schule gehen zu dürfen. Dafür würde sie sorgen!

Ein Löwe mit zwei Kindern, die Kräuter für seine verletzte Pfote mitgebracht haben (Quelle: Peter Laux)Und was soll ich euch sagen?

Am nächsten Tag durfte Tongo gemeinsam mit seiner Schwester Kayuni zu Simba gehen. Kayuni hatte von ihrer Großmutter eine Mischung aus verschiedenen Kräutern bekommen, die sie auf seine Wunde legte, und sie umwickelte die Tatze mit großen feuchten Blättern.

Simba wurde gesund und kam durch die gute Pflege schnell wieder zu Kräften. Er wurde wieder der stolze König der Savanne, sodass er eines Tages wieder die Höhle verließ, um zu seiner Löwenfamilie zurückzukehren – allerdings nicht, ohne Kayuni und Tongo von Herzen zu danken und ihnen zu versichern, dass er sie und ihr Dorf immer vor wilden Tieren schützen würde!

Und so kam es, dass alle im Dorf nachts beruhigt schlafen konnten. Und wenn Tongo oder Kayuni nachts wirklich einmal wieder wach waren, konnten sie das leise Brüllen ihres Freundes hören und wussten dann, dass er auf sie und alle Familien im Dorf gut aufpasste.