Honduras: Carlos (17) wollte in die USA fliehen

Carlos (Name geändert). (Quelle: Christoph Dehn)

Carlos (17 Jahre) wollte weg aus Honduras. Sein Leben dort bestand nur aus Schlägen, Hunger und Ausbeutung. Sein Ziel: die USA. Er flüchtete mit dem Bus, als er kein Geld mehr hatte auch tagelang zu Fuß, schließlich auf dem Dach eines Güterzuges. Doch er wurde erwischt, ins Gefängnis gesteckt und zurück nach Honduras gekarrt. Heute lebt er in einem Projekt der Casa Alianza.

Von Christoph Dehn, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Kindernothilfe, Tegucigalpa/Honduras, 15.10.2016

Als die Schüsse fielen, lag Carlos ganz hinten auf dem Dach des Güterwaggons. Das rettete ihm wahrscheinlich das Leben. Die Banditen hatten ihn offenbar übersehen. Weiter vorn hatten die Bewaffneten gerade einen Mann erschossen. Ein paar andere warfen sie vom Dach des fahrenden Zuges. Dann verschwanden sie mit ihnen. Carlos weiß nicht, was mit ihnen geschah.

Jedes Jahr machen sich Gruppen verzweifelter Menschen auf, um aus Mittelamerika, aus Nicaragua, Honduras, El Salvador und Guatemala auszuwandern. Sie wollen in die USA, sie hoffen, die Grenzen unentdeckt zu überwinden und in den Vereinigten Staaten ein Leben ohne Hunger und Gewalt zu beginnen. Unter den Auswanderern sind auch mehrere zehntausend Kinder und Jugendliche, viele von ihnen allein, ohne Eltern und erwachsene Begleiter. Einer von ihnen war Carlos.

Zuhause gab es nur Hunger, Schläge und Arbeit

Carlos kommt aus einem kleinen Dorf. Er hat fünf Geschwister. Sein Vater ist Gelegenheitsarbeiter. Wenn der samstags seinen Lohn bekommt, kann die Familie einkaufen. Die Lebensmittel reichen meist nur bis zum nächsten Donnerstag. Freitags müssen Eltern und Kinder hungern, erst samstagabends, wenn der nächste Lohn ausgezahlt wird, bekommen alle wieder etwas essen. Als Carlo acht Jahre alt war, bekam er eine Schaufel und eine Hacke und musste arbeiten. Wegen der Arbeit konnte er nicht viel für die Schule machen. Nach der achten Klasse der neunjährigen Grundschule war dann ganz Schluss mit Schulunterricht – Carlos musste nur noch arbeiten.

Zu Hause war es auch nicht lustig. Die Eltern stritten sich häufig, der Streit uferte immer wieder in Schlägereien aus. Auch die Kinder wurden oft geschlagen, von beiden Eltern. Kein Leben, mit dem sich ein Junge gern zufrieden gibt. Carlos Freund Eduardo hatte schon einmal versucht, in die USA zu flüchten. Er war bis nach Texas gekommen, bevor er aufgegriffen und nach Honduras zurückgeschickt wurde. In den USA, da gebe es Geld und Arbeit und Freiheit, meinte Eduardo. Carlos war 17, ohne Schulabschluss, ohne Arbeit und ohne Perspektive, als er beschloss, in die USA auszuwandern.

Flucht nach Mexiko auf dem Dach eines Güterzuges

Carlos sparte umgerechnet 40 Euro. Damit kam er auf seiner Flucht gut voran. Aber an der Grenze zwischen Guatemala und Mexiko waren seine Ersparnisse aufgebraucht. Er hatte kein Geld mehr für Lebensmittel oder Busfahrten. Sechs Tage lief Carlos zu Fuß, bis er die Eisenbahnlinie erreichte. Als er dort ankam, bluteten seine Füße, und er war völlig ausgetrocknet. Ab hier wollte er mit dem Zug weiterfahren. Nicht mit einem Passagierzug natürlich, sondern auf dem Dach eines Güterzugs, der bei den Auswanderern „Das Ungeheuer“ heißt. Mit ihm lagen und saßen 35 Menschen auf dem Dach des Waggons. Dann fielen die Schüsse.

Die mexikanischen Drogenbanden haben entdeckt, dass sie mit Auswanderern aus Mittelamerika Geld machen können. Sie nehmen die Menschen gefangen und erpressen von den Familien Lösegeld. Viele der Gefangenen kommen aus armen Familien, aber 5.000 US-Dollar dürften ein normaler Preis für die Freilassung sein. Wenn niemand zahlt, wird die Geisel erschossen.

In der Nähe der mexikanischen Stadt Tierra Blanca stieg Carlos mit den übrigen Passagieren vom Zugdach. Er und ein paar andere hatten sich vor der Zugfahrt etwas Geld zusammengebettelt. Davon wollten sie nun in einer Cafeteria etwas essen. Keine gute Idee. Denn offenbar bekam die Wirtin mit, dass sie untereinander beratschlagten, wie sie weiter vorgehen sollten. Jedenfalls war ganz schnell die Grenzpolizei da. „Das hier ist nicht euer Land, ihr Arschlöcher!“, brüllten die Polizisten. Obwohl die Auswanderer versuchten zu fliehen, wurden sie alle geschnappt, gefesselt und ins Gefängnis gebracht.

Tage voller Angst im Gefängnis

Drei Tage im Gefängnis, Beschimpfungen, verdorbenes Essen, Tage voller Angst. Am dritten Tag gegen Mitternacht fuhren Busse vor. Die geschnappten Migranten wurden auf einer 15-stündigen Reise nach Honduras zurückgefahren.

In der Nähe der Stadt  San Pedro Sula im Norden des Landes gibt es ein Ankunftszentrum für abgeschobene Auswanderer. Dreimal in der Woche kommen hier die Busse an. 6.000 minderjährige Auswanderer sind in den ersten neun Monaten dieses Jahres bereits ausgeladen worden. Die Kindernothilfe-Partnerorganisation Casa Alianza kümmert sich dort vor allem um die Kinder und Jugendlichen, die ohne Erwachsene auf der Flucht sind. Auch Carlos erhielt die Telefonnummer von Casa Alianza und den Rat, sich dort zu melden.

Aber Carlos wollte nach Hause, in sein Dorf, zu seinen Eltern und Geschwistern. Nur dass ihm nach seiner misslungenen Auswanderung alles noch grauer und hoffnungsloser vorkam. Das Geld reichte immer noch vorne und hinten nicht, der Streit zwischen den Eltern ging immer weiter. Dann wurde die Mutter ernsthaft krank. Carlos wurde klar, dass er an seinem Leben etwas grundsätzlich ändern musste.

Kindernothilfe-Vorstand Christoph Dehn mit Jugendlichen im Zentrum von Casa Alianza. (Quelle: Kindernothilfe-Partner)

Bei Casa Alianza ist Carlos endlich glücklich

Carlos erinnerte sich an die Telefonnummer von Casa Alianza und rief dort an. Er solle nach Tegucigalpa kommen, sagte man ihm, in das Zentrum von Casa Alianza, dort könne er wohnen, essen, die Schule abschließen, eine Ausbildung machen. Die Kindernothilfe unterstützt dieses Zentrum von Casa Alianza. Zurzeit leben dort 105 Jungen und Mädchen, die Schreckliches erlebt haben. Mit verschiedenen Formen von Therapie, Schule, Ausbildung und viel Zuwendung werden hier Straßenkinder, verzweifelte und gescheiterte Auswanderer für ein gutes Leben fit gemacht.

Jetzt, etwas über ein Jahr später, sitzt Carlos vor mir mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Er hat inzwischen die neunte Klasse abgeschlossen und damit den Schulabschluss geschafft. Im Moment ist er in der nahen Don Bosco-Schule in einer Kurzausbildung zum Trockenbauer. Aber das soll nur ein Zwischenschritt sein. Eigentlich will er Arzt werden. Mit etwas Hilfe von Casa Alianza könnte das schon klappen. Zumindest kann er hier wohnen bleiben, bis er 21 ist.

Ich frage Carlos, ob ich seine ganze Geschichte aufschreiben darf. Er lacht und sagt: „Ja bitte, ich möchte, dass viele erfahren, wie es mir ergangen ist, damit es ihnen erspart bleibt.“ Und dann sagt er: „Ich bin jetzt jeden Tag ein bisschen glücklicher.“