Indien – Mädchen in Gefahr

Eine Mädchengruppe demonstriert gegen die Tötung von Mädchen in Indien. (Quelle: Kindernothilfe-Partner)

Auf dem großen Plakat steht: „Wenn du ein Mädchen tötest, tötest du viele andere: eine Tochter, Schwester, Ehefrau, Mutter, Freundin“

In Devda, einem Dorf im Bundesstaat Rajasthan, hat es seit Jahrzehnten keine Hochzeit mehr gegeben. Es gibt zwar Hunderte junge Männer, aber kaum junge Frauen. Der Grund: Viele Mädchen sterben schon als Babys und Kleinkinder, und vor der Geburt werden häufiger Töchter abgetrieben als Söhne. Die Vereinten Nationen haben Indien deshalb zum „gefährlichsten Land der Welt für Mädchen“ erklärt.

Die Geburt einer Tochter ist für viele arme Familien eine wirtschaftliche Katastrophe. Schuld daran ist eine alte Tradition, die man „Mitgift“ nennt: Wenn eine Inderin heiratet, muss ihre Familie ihrem Mann und seiner Familie z. B. wertvollen Schmuck oder viel Geld geben. Viele Familien müssen für die Mitgift mehr ausgeben, als sie in einem ganzen Jahr verdienen. Also müssen sie einen Kredit aufnehmen, den sie oft bis an ihr Lebensende nicht zurückzahlen können, selbst wenn die ganze Familie samt Kindern dafür arbeitet. Und weil Millionen von Eltern keinen anderen Ausweg sehen, lassen sie ihre Töchter direkt nach der Geburt oder schon im Mutterleib töten.

Viele Mädchen sterben auch deshalb so früh, weil ihre Eltern ihnen weniger und schlechteres Essen geben als ihren Brüdern. Und wenn sie krank werden, ist die Familie oft nicht bereit, Medikamente oder einen Arzt zu bezahlen.

Indisches Mädchen mit traurigem Blick. (Quelle: Hannah Rinnhofer)

Viele indische Mädchen würden gern zur Schule gehen, doch ihre Eltern halten das für überflüssig.

Mehrere indische Regierungen haben mit Gesetzen versucht, das Leben von Mädchen zu retten. Schon 1961 wurde die Mitgift verboten, und seit 1994 ist es strafbar, vor der Geburt feststellen zu lassen, ob eine Schwangere eine Tochter oder einen Sohn erwartet. Aber all diese Gesetze haben nicht geholfen, weil viele Menschen immer noch die alten Traditionen befolgen.

Wenn Kinder heiraten

In Indien bleiben Söhne bei ihren Eltern, wenn sie erwachsen sind, und kümmern sich um sie. Schon deshalb finden viele Eltern es besser, Söhne zu bekommen. Töchter werden verheiratet, verlassen ihr Elternhaus und kümmern sich um ihren Mann und die Schwiegereltern. Deshalb halten viele Eltern es für überflüssig, Geld in die Ausbildung ihrer Töchter zu
stecken.

Außerdem haben sie Angst, dass kein Mann sie heiraten will, wenn sie womöglich gebildeter sind als er.

Jedes Kind kostet Geld, deshalb versuchen arme Familien, ihre Töchter so früh wie möglich zu verheiraten. Laut Gesetz müssen die Mädchen 18 Jahre alt sein, aber in Indien werden weltweit die meisten Mädchen schon vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet, teilweise schon mit zehn Jahren. Wenn sie dann schwanger werden, besteht die große Gefahr, dass sie während der Schwangerschaft oder bei der Geburt sterben. Ihr Körper ist noch gar nicht darauf vorbereitet, ein Baby auszutragen.

Zwei indische Schülerinnen machen Hausaufgaben. (Quelle: Ralf Krämer)

Zwei indische Schülerinnen machen Hausaufgaben.

In Kerala ist alles anders

Im Bundesstaat Kerala sind Mädchen und Frauen besser angesehen als im übrigen Indien. Das liegt daran, dass hier jahrhundertelang die Töchter nach dem Tod der Eltern ihren Besitz geerbt haben, nicht wie im übrigen Land die Söhne. Die früheren Herrscher in Kerala, die Maharadschas, waren fortschrittlich und haben Bildung für alle Menschen gefördert, auch für Mädchen und Frauen. Deshalb werden in Kerala bis heute Mädchen genau wie Jungen zur Schule geschickt. Und darum können dort mehr Menschen lesen und schreiben als in den anderen indischen Bundesstaaten. Nur wenige Familien sind arm. Eltern fühlen sich deshalb nicht gezwungen, aus Armut ihre Töchter zu töten oder sie als Kinder zu verheiraten. Dadurch gibt es in Kerala als einzigem Bundesstaat in Indien mehr Frauen als Männer.

Ohne Frauen geht es nicht!

Meistens sind es Frauen, die sich um Haushalt und Kinder kümmern. Je mehr sie z. B. über gesundes Essen wissen und darüber, wie Krankheiten entstehen und wie man sie verhindern kann, desto gesünder sind ihre Kinder. Mütter, die selbst lesen und schreiben gelernt haben, sorgen dafür, dass auch ihre Söhne und Töchter zur Schule gehen. Frauen, die einen Beruf haben und Geld verdienen, bekommen weniger Kinder. Sie müssen keine Söhne bekommen, damit sich später jemand um sie kümmert, denn sie können für sich selbst sorgen.

Es tut sich was!

Kutani sollte mit 16 verheiratet werden. Doch der Kindernothilfe-Partner Jagruthi über-zeugte ihre Familie, sie weiter zur Schule gehen zu lassen. Inzwischen studiert sie und will Polizistin werden. (Quelle: Jakob Studnar)

Kutani sollte mit 16 verheiratet werden. Doch der Kindernothilfe-Partner Jagruthi überzeugte ihre Familie, sie weiter zur Schule gehen zu lassen. Inzwischen studiert sie und will Polizistin werden.

In den Kindernothilfe-Projekten im Bundesstaat Bihar beobachten die Mitarbeiter auf einmal Erstaunliches: Mehr Eltern als sonst schicken ihre Töchter zur Schule, weil junge Männer gebildete Frauen heiraten wollen. Die Ehefrauen können dann ebenfalls arbeiten und Geld verdienen. Und je gebildeter eine Frau ist, desto weniger Mitgift müssen ihre Eltern zahlen.

In den Städten arbeiten längst viele Rechtsanwältinnen, Ärztinnen oder Wissenschaftlerinnen; Frauen moderieren Talkshows, drehen Filme, sind in der Computerindustrie oder in der Luftfahrt beschäftigt. Der weltweit erste Airbus, in dem das Bordpersonal ausschließlich aus Frauen bestand, kam aus Indien. Und die berühmteste Inderin war sogar Ministerpräsidentin: Indira Ghandi.

Inzwischen wehren sich auch Frauen aus den Dörfern und Armenvierteln dagegen, von Männern als minderwertig behandelt zu werden. Sie schließen sich zu Gruppen zusammen und protestieren gegen ihre Benachteiligung und die ihrer Töchter. Auch die Kindernothilfe-Partner unterstützen Frauengruppen, damit sie sich gegen Ungerechtigkeit wehren können.

 

Quellen: Bundeszentrale für politische Bildung: Emanzipation in Indien, FAZ vom 1.12.2016: Verhasste Mädchen, UNICEF: Kinderheirat ist eine schwere Menschenrechtsverletzung, Heinz-Kühn-Stiftung: Die zwei Gesichter des „Kerala-Modells“