Kenia: Bahati (14) hat sechs Jahre auf der Straße gelebt

Sozialarbeiter eines Kindernothilfe-Partners im Gespräch mit Straßenkindern. (Quelle: Roland Brockmann)

Bahatis Eltern waren Alkoholiker, die sich nie um ihre Kinder gekümmert haben. Also rannte er weg und lebte auf der Straße. Jetzt hat er eine neue Familie gefunden und geht zur Schule.

Text: Katharina Nickoleit; Fotos: Roland Brockmann, Christian Nusch

Für Bahati ist alles gut geworden. Er sitzt entspannt zurückgelehnt auf seinem Sessel und hört seinem Ziehvater zu. Johnson Charles Munene ist ein großer, breitschultriger Mann – sein Blick wird weich, wenn er Bahati anschaut: „Ich habe drei Kinder, die alle eine gute Ausbildung haben und beruflich etwas erreichen. Ich habe alles, was ich für ein gutes Leben brauche, und darüber bin ich wirklich sehr glücklich. Ich dachte, es ist an der Zeit, von diesem Glück etwas weiterzugeben und einem der Kinder ohne Eltern ein wenig Hoffnung zu schenken.“

Bahati (l.) ist sehr glücklich in seiner neuen Familie. (Quelle: Christian Nusch)

„Ich wusste, dass ich ein Zuhause gefunden hatte“

Bahati teilt sich mit seinem Stiefbruder ein Zimmer. (Quelle: Christian Nusch)Der 57 Jahre alte Lehrer ist nicht reich, gemessen an unseren Maßstäben. Sein kleines Häuschen hat neben dem beengten Wohnzimmer nur drei sehr kleine Schlafzimmer, in denen außer den Bettgestellen keine Möbel stehen. Seit einem Jahr nun teilt sich Bahati eines dieser Zimmer mit Edwin, Johnsons erwachsenem Sohn.

„Als er zu mir gebracht wurde, da sah ich ihn an und wusste: Das ist das Kind, das ich aufnehmen möchte. Und ich bin sehr glücklich darüber, dass er bei uns lebt!“ Und Bahati, wie erlebte er den ersten Tag? „Als ich Mr. Johnson zum ersten Mal sah, da war ich sehr froh, denn ich wusste, dass ich ein Zuhause gefunden hatte.“

„Früher, vor 20 Jahren, da gab es bei uns keine Straßenkinder“, erinnert sich Simon Moira, Mitarbeiter von St Martin, der Partnerorganisation der Kindernothilfe. „Wenn sich die Eltern damals nicht mehr um ihre Kinder kümmern konnten, dann war im Dorf immer irgendeine Tante oder eine Nachbarin dazu bereit.“

Als Bahati auf der Straße landete, war er sieben Jahre alt

Doch Kenia verändert sich. Auf der Suche nach Arbeit ziehen die Menschen aus ihren Dörfern weg, die Familien zerbrechen. Und viele Menschen kommen mit dem Leben in den Städten nicht klar, sie finden keinen Job, sie fühlen sich allein, ihnen fehlt die Geborgenheit der Familie. Also flüchten sie sich in Alkohol und Drogen oder ziehen weg. So wie Bahatis Eltern. „Meine Eltern waren beide Alkoholiker und haben sich nicht um uns Kinder gekümmert. Ich war sieben Jahre alt, als ich anfing, mich alleine auf der Straße durchzuschlagen.“ Bahati erzählt das mit leiser Stimme, fast so, als könne er dadurch erreichen, dass die Erinnerung blass und verschwommen bleibt. Er schloss sich mit anderen Straßenkindern zusammen, gemeinsam sammelten sie Papier, Glas und Metall und verkauften die Rohstoffe an Recycler. Nachts schliefen sie im Schutz der Gruppe gemeinsam in dunklen Ecken der Stadt Nyahururu.

Schlafende Straßenkinder in der Stadt. (Quelle: Roland Brockmann)

Es dauerte sechs Jahre, bis Bahati eines Tages erfuhr, dass es in der Stadt eine Hilfsorganisation namens St Martin gibt und dass sie ein Programm für Straßenkinder hat. „Ich wusste sofort, dass dies die einmalige Chance ist, um von der Straße wegzukommen.“ Bahati war damals 13 Jahre alt. „Ich nahm allen Mut zusammen und ging in das Büro, um zu fragen, ob sie einen Platz für mich haben.“

Im Straßenkinderprojekt von St Martin in Nyahururu

Heute besucht Bahati zum ersten Mal wieder den Platz, an den ihn Simon Moira damals brachte: das Straßenkinderzentrum von St Martin. „Es ist ein bisschen wie nach Hause zu kommen“, meint er und begrüßt freudig einen der Betreuer. 13 Jungen sind hier untergebracht, sie alle lebten bis vor Kurzem auf der Straße. Ihre Geschichten ähneln sich: Zu Hause gab es nur Streit und Schläge; weil die Eltern keine Schulsachen kauften, waren sie auch dort nicht erwünscht. Auf der Straße, in Gemeinschaft mit anderen Kindern zu leben, das schien ihnen der bessere Weg zu sein. Oft ist es die Polizei, die die Jungs aufsammelt und zu St Martin bringt. „Wir versuchen erst einmal, sie an ein normales Leben zu gewöhnen – an einen regelmäßigen Tagesablauf, an Pflichten im Haushalt, an Respekt vor Erwachsenen. Vor allem aber nehmen wir sie ernst und hören ihnen zu“, erklärt Simon Moira. „Ich weiß noch, wie mich hier zum ersten Mal jemand fragte, wie es mir geht“, erinnert sich Bahati. „Auf der Straße interessiert das keinen, hier schon.“

Alle wollen in die Schule, aber nicht nach Hause

Die 13 Jungen schauen neidisch und fast ehrfürchtig zu Bahati auf. Er hat es geschafft, er hat ein neues Zuhause gefunden, und – noch wichtiger – er darf zur Schule gehen. Zur Schule zu gehen, das ist der größte Traum jedes dieser Kinder. Nach Hause zu den Eltern möchte hingegen keines von ihnen. „Die Kinder sind ja nicht ohne Grund auf der Straße gelandet“, erklärt Simon Moira. „ Trotzdem müssen wir versuchen, sie wieder in ihren Familien unterzubringen, wenigstens bei einer Tante oder der Großmutter.“

St Martin hat keinen Platz, um die Jungen dauerhaft zu beherbergen, sie sind nur vorübergehend hier. Die Unterbringung ist einfach, das Essen auch, Mitarbeit in der Küche und beim Putzen wird von den Jungen erwartet. Sie sollen es hier nicht bequemer haben als in ihren Dörfern, sonst wird es noch schwieriger, sie wieder mit ihren Familien zusammenzubringen.

Während die Jungen betreut werden und Schulstoff nachholen, machen Mitarbeiter von St Martin ihre Familien ausfindig, beraten sie, sprechen über Kinderrechte. Gleichzeitig erarbeiten sie mit den Kindern, wo sie sich Hilfe holen können, wenn es daheim wieder Schwierigkeiten gibt, z. B. in der Kirchengemeinde oder bei einem vorher dafür bestimmten Lehrer, der ein Auge auf die ehemaligen Straßen kinder hat. Und St Martin bezahlt die Schulgebühren, damit die Ausbildung der Kinder gesichert ist.

Bahati spricht Paul und den anderen Jungen Mut zu. „Habt Geduld und habt Hoffnung, dass alles gut wird“, meint er. „Ob ihr nun zu euren Familien oder in eine Pflegefamilie kommt, habt Respekt vor den Erwachsenen und strengt euch an. Sucht euch ein Ziel im Leben und haltet daran fest!“

Pflegeeltern gesucht!

Simon Moira hat ein gutes Verhältnis zu den Straßenkindern. (Quelle: Christian Nusch)Um mehr Menschen aus der örtlichen Gemeinde dazu zu bewegen, Straßenkinder aufzunehmen, lädt Simon Moira regelmäßig Pflegeeltern zu Kirchenversammlungen ein, damit sie von ihren Erfahrungen erzählen. Nicht nur von der Freude, die es macht, einem Kind zu helfen, sondern auch von den Herausforderungen, die damit verbunden sind. „Am Anfang war es schwierig. Wir mussten uns ja erst kennenlernen, und Bahati war wirklich sehr schüchtern, er brachte kaum ein Wort heraus.“ Für Johnson Charles Munene, der sich gerne unterhält und viel zu erzählen hat, war es zunächst nicht leicht, Zugang zu dem verschlossenen Jungen zu finden. „Er hatte so viele Jahre alle Probleme mit sich alleine ausgemacht, dass es ihm sehr schwerfiel, sich zu öffnen“, erinnert er sich und schaut liebevoll zu Bahati hinüber.

Es dauerte einige Wochen, bis der Junge langsam anfing, Vertrauen zu fassen und aus sich herauszukommen. „Es tat mir leid, dass ich nicht viel sagen konnte. Ich hatte einfach nie jemandem zum Reden und war es einfach nicht gewöhnt, etwas zu erzählen. Es hat ja auch niemanden interessiert.“

Bahati ist glücklich in seiner neuen Familie

Bahati mit seinem Pflegevater. (Quelle: Christian Nusch)Es gab vieles, was Bahati anfangs lernen musste. Auf der Straße kommt ein Kind mit dem normalen Alltag und seinen Aufgaben nicht in Berührung. Wie macht man sich etwas zu essen? Wie fegt man ein Zimmer aus oder wäscht sein Hemd? All das war neu für ihn.

Und dann ist da natürlich der Schulstoff. Trotz der Nachhilfe im Drop-In-Center war Bahati mit seinen damals 14 Jahren kaum auf dem Stand der 5. Klasse, als er zu seiner Pflegefamilie kam. Ihn auf den richtigen Lernstand zu bringen, das ist ein Projekt, dem sich Johnson Charles Munene mit all seiner jahrelangen Erfahrung als Lehrer mit Feuereifer widmet. Und mit Erfolg. „Bahati hat es in nur einem Jahr geschafft, auf den Stand der 7. Klasse zu kommen“, verkündet er stolz und erzählt von den vielen Büchern, die der Junge in jeder freien Minute verschlingt. Johnson und Bahati schauen sich an und lächeln. Keine Frage: Die beiden haben sich nicht nur zusammengerauft, sondern sind tatsächlich eine Familie geworden.