Somaliland: Zwei Jahre ohne Regen

Bis zu 20 Millionen Menschen in Ostafrika hungern. Mehr als 360.000 Kinder sind vom Hungertod bedroht. Damit erlebt die Welt gerade die größte menschliche Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg.

Text und Fotos: Angelika Böhling, Pressesprecherin

Hunderte tote Tiere liegen am Straßenrand: Ziegen, Esel, Schafe und Kamele. Manchmal wirken die toten Tiere, als wären sie gerade erst umgefallen. Die Beine weit von sich gestreckt – als wollten sie fliehen, vor dem Hunger und der Dürre in Somaliland, im Norden Somalias.

Seit zwei Jahren hat es in Somaliland nicht mehr richtig geregnet. Die Flüsse sind ausgetrocknet, Bäume und Sträucher sind grau und verdorrt. Früher konnten sich die Menschen hier auf zwei Regenzeiten im April und im Oktober verlassen. Ein paar Wochen im Jahr schüttete es dann kräftig und füllte die Wasserauffangbecken und Regentonnen. Die Somaliländer und ihr Vieh kamen damit aus. Doch das ist schon lange vorbei.

„Wenn unsere Tiere sterben, sind wir verloren“

Die 35-jährige Shangsama kam vor einigen Wochen mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern nach Yarowe, einem Ort in der Nähe der Großstadt Burao. Fast 100 Kilometer sind sie durch die sengende Hitze gelaufen, um Wasser und Nahrung zu finden. „Ich dachte unterwegs, ich müsste sterben“, flüstert ihre Tochter Naima. „Ich konnte einfach nicht mehr weiterlaufen.“ Nachts rollten sich die vier zum Schlafen unter einem Baum zusammen, tagsüber schleppten sie sich durch die knochentrockene Savanne. Die Ziegen, die am Anfang noch mitliefen und wenigstens etwas Milch für die Kinder abgaben, starben nach und nach. Völlig erschöpft kam die Familie nach wochenlanger Wanderung in Yarowe an. Ihr weniges Hab und Gut mussten sie zurücklassen. Sie kamen mit nichts weiter als ihren Kleidern am Körper. „Wenn unsere Tiere sterben“, sagt Shangsama, „sind wir verloren, denn sie sind alles, was wir haben.“

Wenn niemand hilft, werden die Menschen in andere Länder flüchten

Arbeit gibt es für den Vater, einen Viehhirten, in Yarowe nicht, deshalb machte er sich schweren Herzens weiter auf den Weg in die Stadt Burao. Seine Frau und die Kinder ließ er zurück. Einwohner von Yarowe halfen ihnen: Jemand zeigte ihnen ein Fleckchen Land, wo sie ihr Lager aufschlagen konnten, sie bekamen ein paar alte Stoffreste geschenkt, aus denen sie ein notdürftiges Zelt errichteten. Eine Frau überließ ihnen einen verbeulten Topf, ein paar gelbe Plastikkanister und einen alten grauen Wasserkessel. Die Blechteller, die sie von einer anderen Frau aus der Nachbarschaft geschenkt bekamen, liegen ordentlich aufeinandergestapelt auf dem nackten Boden. Einmal am Tag gibt es etwas Reis, sonst bleiben die Teller leer, denn auch hier ist das Essen knapp. „Wir sind auf das Mitgefühl der Menschen und auf die Versorgung durch Hilfsorganisationen angewiesen“, sagt Shangsama beschämt. Täglich kommen neue Vertriebene in Yarowe an. Eine enorme Belastung, auch für die Einheimischen. „Vor der Dürre lebten hier 1.300 Menschen“, weiß Asia Abdulkadir, Mitarbeiterin der Kindernothilfe in Somaliland. „In den vergangenen Monaten sind fast 500 dazugekommen.“

Shukri Ismael Bandare, Ministerin für ländliche Entwicklung und Umwelt, sagt: „Wenn wir den Menschen hier nicht schnell helfen, werden sie sich auf den Weg in andere Länder machen.“

Kindernothilfe-Partner bringen Wasser und Lebensmittel

Schnelle und direkte Hilfe für die Not leidenden Menschen leisten vor allem einheimische Hilfsorganisationen mit Unterstützung aus dem Ausland. Für zunächst einen Monat bezahlt die Kindernothilfe die Kosten für Wassertransporte und Nahrungsmittel, die an Menschen in den Dörfern im Hinterland von Burao bis an die äthiopische Grenze verteilt werden. Jede Familie erhält vier Kilo Datteln und Haferflocken, fünf Liter Öl und je zehn Kilogramm Reis, Mehl und Zucker. Damit müssen sie einen Monat lang auskommen. Um keine Zeit zu verlieren, fahren die LKW-Fahrer mittlerweile im Dreischicht-Betrieb. Zwei Männer schlafen, während der dritte geschickt über die holprigen Sandpisten prescht und dabei gut darauf achtet, dass der schwere Laster nicht im tiefen Sand steckenbleibt. „Wenn sich die Situation nicht bald ändert, müssen wir die Hilfe unbedingt ausweiten. Dazu brauchen wir aber dringend mehr Spenden“, sagt Abdulkadir.

Einen Arzt gibt es hier nicht – dafür aber lange Schlangen mit Müttern, kleinen Kindern und schwangeren Frauen, die geduldig warten, bis sie an der Reihe sind.

Naima darf nicht zur Schule gehen

Die Krankenstation hat Shangsama Ardar mit ihren beiden Töchtern glücklicherweise noch nicht aufsuchen müssen. Vielleicht liegt es daran, dass die beiden Mädchen an der nahe gelegenen Grundschule regelmäßig zweimal täglich zum Essen kommen dürfen und auch mit Wasser versorgt werden. Morgens früh gibt es Porridge, eine Haferflockensuppe, und mittags eine warme Mahlzeit. Das Programm hier und in vier Dörfern rund um Hargeisa und im westlichen Gabiley wird ebenfalls von der Kindernothilfe unterstützt.

So sehr sich Naima und ihre Schwester auch über die gemeinsamen Mahlzeiten mit den anderen Kindern freuen, so traurig sind die beiden, wenn sie nach dem Essen die Schule wieder verlassen müssen. Denn die Regierung hat festgelegt, dass alle Kinder Schulkleidung tragen und Bücher und Lernmaterial selbst bezahlen müssen. Und dafür hat Naimas Familie kein Geld. „Ich würde meine Mädchen gerne in den Unterricht schicken“, sagt Shangsama, „aber wie soll ich das bezahlen, wenn wir noch nicht einmal einen Dollar für Wasser und Essen übrig haben?“

Durch die Dürre bleibt Tausenden Mädchen und Jungen in Somaliland wochen- oder sogar monatelang der Schulbesuch verwehrt. So wächst bei den Kindern der Hunger nach Bildung und gleichzeitig der Wunsch, bald wieder nach Hause zurückkehren zu können. Mutter Shangsama schaut betreten nach unten, denn sie weiß, dass die Zukunft für ihre Töchter und Millionen anderer Kinder in Somaliland ungewiss ist. In ihrem Zelt kramt Naima ein altes Schulheft mit Zeichnungen und Bildern hervor, in dem nur noch ein paar freie Seiten sind. Stolz zeigt sie, wie geschickt sie mit dem Stift umgehen, ihre Hand umranden und ausmalen kann. „Ich hoffe, der Regen kommt bald, und dann wird alles wieder gut“, sagt sie und legt das Heft beiseite.

Projekt 69047